Verfahrensinformation



Die Klägerinnen in den beiden Verfahren sind syrische bzw. eritreische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihren in Deutschland als Flüchtlinge anerkannten Vätern.


Nach der Flüchtlingsanerkennung und Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen erstatteten die Väter der Klägerinnen fristwahrende Anzeigen (§ 29 Abs. 2 AufenthG) zum Familiennachzug ihrer im Ausland aufhältigen Familienangehörigen (Ehefrauen und Kinder) bei den zuständigen Ausländerbehörden zu Zeitpunkten, in denen die Klägerinnen noch minderjährig waren. Förmliche Visumanträge unter persönlicher Vorsprache stellten die Familienangehörigen bei den deutschen Auslandsvertretungen dann zu Zeitpunkten, in denen die Klägerinnen bereits volljährig waren, woraufhin die Auslandsvertretungen die Visumanträge der Klägerinnen ablehnten. Den übrigen Familienangehörigen wurden Visa erteilt, auf deren Grundlage sie in die Bundesrepublik Deutschland einreisten und ihnen Aufenthaltstitel erteilt wurden.


Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zur Erteilung von Visa zum Familiennachzug (auch) an die Klägerinnen verpflichtet. Die fristwahrenden Anzeigen der Väter gegenüber der Ausländerbehörde würden auch die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geltende Dreimonatsfrist für die Stellung von Visumanträgen wahren und die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen zum Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling (§ 32 Abs. 1 AufenthG) lägen vor.


Mit den vom Verwaltungsgericht zugelassenen Revisionen wendet sich die Beklagte gegen die Verpflichtung zur Erteilung von Visa an die Klägerinnen. Für die Fristwahrung sei auf die Zeitpunkte der förmlichen Visumantragstellung bei den Auslandsvertretungen abzustellen, zu denen die Klägerinnen bereits volljährig gewesen seien; die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen zum Kindernachzug und die entsprechende Visumserteilung an die Klägerinnen auch auf anderen Rechtsgrundlagen lägen nicht vor.


Urteil vom 29.08.2024 -
BVerwG 1 C 9.23ECLI:DE:BVerwG:2024:290824U1C9.23.0

Visumantragstellungsfrist beim Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling

Leitsätze:

1. Sind nachzugswillige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils zum Zeitpunkt der Visumantragstellung volljährig, besteht kein Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG. Ein solcher Anspruch kann allerdings unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG folgen (Bestätigung von BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 11).

2. Eine bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 3 AufenthG stellt keinen Visumantrag im Sinne des § 81 Abs. 1 AufenthG dar.

3. Die Versäumung der Frist für die Visumantragstellung kann nachzugswilligen Kindern nicht entgegengehalten werden, wenn eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2, § 32 Abs. 1
    RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c, Art. 12 Abs. 1

  • VG Berlin - 13.03.2023 - AZ: 36 K 176/21 V

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 29.08.2024 - 1 C 9.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:290824U1C9.23.0]

Urteil

BVerwG 1 C 9.23

  • VG Berlin - 13.03.2023 - AZ: 36 K 176/21 V

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 29. August 2024
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und Böhmann und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:

  1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 13. März 2023 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Gründe

I

1 Die Klägerinnen sind syrische Staatsangehörige und begehren die Erteilung von nationalen Visa zum Zweck der Familienzusammenführung.

2 Der Vater (Stammberechtigter) der am 17. Juli 1999 geborenen Klägerin zu 1 und der am 1. Mai 2001 geborenen Klägerin zu 2 wurde auf seinen Antrag vom 2. November 2015 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 13. November 2015 als Flüchtling anerkannt.

3 Mit Schreiben vom 2. Februar 2016 bekundete der Vater gegenüber der seinerzeit zuständigen Ausländerbehörde sein Begehren, die in Syrien befindliche Familie nach Deutschland nachzuholen.

4 Am 11. Februar 2020 beantragten die Klägerinnen gemeinsam mit weiteren Familienangehörigen bei der Deutschen Botschaft in Beirut die Erteilung von Visa zum Zweck des Familiennachzuges zu dem Stammberechtigten.

5 Mit Bescheiden vom 12. Mai 2021 lehnte die Botschaft die Anträge ab. Zur Begründung der Ablehnung gegenüber den Klägerinnen wurde angeführt, sie seien bei der Antragstellung bereits volljährig gewesen und die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG lägen nicht vor; insbesondere erfülle das für die Klägerin zu 1 vorgelegte Attest als auch der Umstand, dass beide Klägerinnen als alleinstehende Frauen in Syrien leben müssten, nicht die Anforderungen für die Begründung einer besonderen Härte. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 13. März 2023 verpflichtet, den Klägerinnen Visa zum Familiennachzug zu erteilen. Sie hätten einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 29 und 32 AufenthG und damit auf Erteilung eines Visums (§ 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Dem Vater der Klägerinnen sei eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt worden. Von den Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sei gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG abzusehen; beide Elternteile lebten mittlerweile im Bundesgebiet. Die Klägerinnen seien auch noch als minderjährig im Sinne des § 32 AufenthG anzusehen, weil sie zum maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung der Referenzperson noch minderjährig gewesen seien. Unbeachtlich sei, dass die Klägerinnen vor Abschluss des Visumverfahrens volljährig geworden seien. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) setze sich die Minderjährigkeit in das laufende Visumverfahren fort, wenn der Antrag auf Erteilung des Nachzugsvisums innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Referenzperson gestellt werde. Maßgebend für den Beginn der Frist sei die Kenntnis des Betroffenen (Nachzugswilligen) von der Flüchtlingsanerkennung der Referenzperson, hier frühestens der 13. November 2015, unter dem der Anerkennungsbescheid des Vaters ergangen sei. Die Dreimonatsfrist sei mit dem vom Vater am 2. Februar 2016 an die zuständige Ausländerbehörde gerichteten Schreiben mit dem Antrag auf Familienzusammenführung gewahrt. Der vom Gerichtshof gemeinte Antrag auf Familienzusammenführung entspreche nicht dem bisher im nationalen Recht für die Erteilung des Visums verwendeten Antragsbegriff. Die Fristwahrung scheitere auch nicht an dem Umstand, dass die Botschaft erst mehrere Jahre nach der Antragstellung anlässlich der Vorsprache der Klägerinnen am 11. Februar 2020 die für die Bearbeitung erforderlichen Informationen erhalten und erst am 12. Mai 2021 über die Anträge entschieden habe. Diese Verzögerung sei nicht von den Klägerinnen zu vertreten. Die erhebliche Dauer des Visumverfahrens gehe nicht auf ein Nichtbetreiben durch die Klägerinnen, sondern auf die äußeren Umstände des Bürgerkrieges in Syrien sowie den Grenzkonflikt der Türkei mit Syrien zurück. Die weiteren Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzuges lägen vor.

6 Zur Begründung der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision macht die Beklagte geltend, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geltende Dreimonatsfrist zwischen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im November 2015 und der Stellung des Familienzusammenführungsantrages bei der Auslandsvertretung im Februar 2020 sei nicht gewahrt. Die im Februar 2016 gegenüber der Ausländerbehörde abgegebene fristwahrende Anzeige stelle keinen Antrag auf Familienzusammenführung dar. Die Beigeladene sei jedenfalls nicht die zuständige Behörde zur Stellung des Visumantrages und nicht zur Weiterleitung an die Auslandsvertretung verpflichtet gewesen. Der Stammberechtigte könne selbst formlos, z. B. per Fax oder E-Mail, einen Visumantrag oder eine fristwahrende Anzeige bei der Auslandsvertretung einreichen.

7 Die Klägerinnen verteidigen das angefochtene Urteil.

8 Die Beigeladene schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.

II

9 Der Senat konnte trotz Abwesenheit eines Vertreters der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung zur Sache verhandeln und entscheiden (§ 102 Abs. 2 VwGO).

10 Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt zwar Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), indem es den Klägerinnen einen Anspruch auf Erteilung von Visa zur Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkannten Elternteil aus § 32 Abs. 1 AufenthG zuerkennt (1.). Es erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil den Klägerinnen ein solcher Anspruch unmittelbar aus Art. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12 - RL 2003/86/EG) zusteht (2.).

11 1. Unter Verstoß gegen Bundesrecht hat das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Klägerinnen auf Erteilung der begehrten Visa aus § 32 AufenthG bejaht.

12 Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich die Erteilung eines (nationalen) Visums zur Einreise nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Nach der vom Verwaltungsgericht im Hinblick auf die begehrte Erteilung von Visa zum Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling herangezogenen Anspruchsgrundlage des § 32 Abs. 1 AufenthG ist dem minderjährigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil unter anderem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG als anerkannter Flüchtling haben.

13 Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels — wie der vorliegenden — grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Aus Gründen des materiellen Rechts gilt für den Fall, dass ein Anspruch an eine gesetzliche Altersgrenze knüpft, eine Ausnahme von diesem Grundsatz. Setzt der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so muss diese zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zu dem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 10 und Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 9).

14 Danach haben die Klägerinnen keinen Anspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG, weil sie zum maßgeblichen Zeitpunkt der Visumantragstellung bei der Auslandsvertretung im Februar 2020 bereits volljährig waren. Eine Auslegung des § 32 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des Kindes anhand des Zeitpunkts der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils beurteilt, ist in Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln nicht möglich, auch wenn Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt gebietet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 10).

15 Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts stellt eine bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 3 AufenthG, die nach Auffassung der Beteiligten und des Verwaltungsgerichts in der vom Vater der Klägerinnen im Februar 2016 abgegebenen Erklärung zu sehen ist, keinen Visumantrag dar. Die Erklärung bewirkt lediglich, dass bei einer Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Zuge des Familiennachzuges innerhalb von drei Monaten ab unanfechtbarer Schutzgewährung von den Voraussetzungen der Lebensunterhalts- und Wohnraumsicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen ist.

16 Diese Regelung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass dem Familienangehörigen eines Flüchtlings aufgrund besonderer Umstände im Aufenthaltsstaat eine fristgerechte Antragstellung unter Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, und dient der Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG (BT-Drs. 16/5065 S. 172). Gleichwohl ist nach den - von Art. 5 Abs. 1 RL 2003/86/EG gedeckten – § 71 Abs. 2 Satz 1 und § 81 Abs. 1 AufenthG der Visumantrag von dem nachzugswilligen Ausländer bei der zuständigen Auslandsvertretung zu stellen. Eine Modifikation dieser Vorgaben ist § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG insbesondere im Hinblick auf die Regelungsintention des Gesetzgebers nicht zu entnehmen.

17 2. Die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung von Visa zum Familiennachzug an die Klägerinnen erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil die Klägerinnen einen Anspruch aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG haben. Danach gestatten die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden, der das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt, die Einreise und den Aufenthalt. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift liegen vor (BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 11).

18 a) Für den Kindernachzug zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil hat der Gerichtshof Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG dahin ausgelegt, dass für die Feststellung, ob das Kind, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, minderjährig im Sinne dieser Bestimmung ist, der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde (EuGH, Urteil vom 1. August 2022 - C-279/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2022:​​618] - Rn. 54; vgl. entsprechend zum Nachzug der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling EuGH, Urteil vom 12. April 2018 - C-550/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​248] - Rn. 64). Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Familiennachzug nicht von der Dauer der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch die nationale Behörde abhängen, sondern sichergestellt sein soll, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen (vgl. EuGH, Urteile vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 55 und 60 und vom 1. August 2022 - C-279/20 - Rn. 47 ff.).

19 Die mit der Dreimonatsfrist bewirkte Begrenzung der Möglichkeit, sich für den Familiennachzug auf die bei Asylantragstellung des zusammenführenden Familienangehörigen noch bestehende Minderjährigkeit zu berufen, beruht darauf, dass es dem Ziel des zum Schutz von Minderjährigen geregelten Nachzugsanspruchs nicht entspräche, wenn sich die Betroffenen hierauf ohne zeitliche Grenze berufen könnten, und dass einem Antrag auf Familienzusammenführung grundsätzlich kein Hindernis aus der behördlichen Sphäre mehr entgegensteht, wenn über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den zusammenführenden Familienangehörigen entschieden ist. Der Gerichtshof hat deshalb eine Antragstellung innerhalb einer angemessenen Frist für erforderlich gehalten, die er in Anlehnung an Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG auf drei Monate bestimmt hat (vgl. EuGH, Urteile vom 12. April 2018 - C-550/16 - Rn. 61 und vom 1. August 2022 - C-279/20 - Rn. 53). Eine Frist für die Visumantragstellung kann jedoch nicht zu laufen beginnen, bevor das nachzugswillige Kind volljährig wird (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2024 - C-560/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2024:​​96] - Rn. 40). Die sich hieraus ergebenden Fristen für die Visumantragstellung haben die Klägerinnen nicht eingehalten.

20 b) Eine verspätete Antragstellung kann dem nachzugswilligen Kind allerdings ausnahmsweise nicht entgegengehalten werden, wenn eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war. Dies ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG geltenden Grundsätze. Eine andere Handhabung wäre mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz nicht zu vereinbaren, nach dem verfahrensrechtliche Regelungen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen; dies ist unter anderem unter Berücksichtigung des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​877] - Rn. 56 und 58). Daran anknüpfend steht Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG einer nationalen Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung unter den günstigeren Bedingungen des Kapitels V der Richtlinie 2003/86/EG wegen einer Versäumung der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG genannten Frist abgelehnt werden kann, nur dann nicht entgegen, wenn die Regelung unter anderem vorsieht, dass ein solcher Ablehnungsgrund in Fällen unzulässig ist, in denen die verspätete Stellung des Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist und dass die betroffenen Personen in vollem Umfang über die Folgen der Entscheidung zur Ablehnung ihres Antrags und die Maßnahmen, die sie zu ergreifen haben, um das Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen, informiert werden (EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 - Rn. 66).

21 Im Hinblick auf die hier in Rede stehende, vom Gerichtshof ebenfalls aus Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG abgeleitete Frist finden diese Grundsätze entsprechende Anwendung. Ein derartiges Verständnis ergibt sich aus den Zielen der Richtlinie 2003/86/EG. Sie soll die Familienzusammenführung begünstigen und Drittstaatsangehörigen, namentlich Minderjährigen, Schutz gewähren. Wie aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, zielt die Richtlinie darauf ab, Drittstaatsangehörigen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen stärkeren Schutz zu gewähren, indem sie günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, da ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und die sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Die Bestimmungen der Richtlinie müssen zudem im Lichte von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 GRC ausgelegt werden; daher müssen die zuständigen nationalen Behörden alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewerten (vgl. EuGH, Urteil vom 18. April 2023 - C-1/23 PPU [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​296] - Rn. 42 ff.). Diesen Zielen der Richtlinie kann in Fällen wie dem vorliegenden nur dann in unionsrechtskonformer Weise Rechnung getragen werden, wenn die Fristversäumnis unter den bezeichneten Voraussetzungen einem nachzugswilligen Kind nicht entgegengehalten werden darf. An der Richtigkeit dieser Interpretation des Unionsrechts bestehen keine vernünftigen Zweifel. Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es daher nicht (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2015 - C-160/14 [ECLI:​​EU:​​C:​​2015:​​565] - Rn. 38).

22 c) Die bezeichneten Voraussetzungen liegen hier vor. Mangels hinreichender Informationen im Hinblick auf die einzuhaltende Frist und der objektiven Entschuldbarkeit der verspäteten Antragstellung aufgrund der Umstände des Einzelfalls steht die Fristversäumung dem Anspruch der Klägerinnen nicht entgegen.

23 aa) Die Bindung des Visumantrags an die genannte Frist konnte den Klägerinnen nicht bekannt sein, da sie sich erst aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 12. April 2018 - C-550/16 -, vom 1. August 2022 - C-279/20 - und vom 30. Januar 2024 - C-560/20 - Rn. 40) ergibt. Dieser Rechtsprechung war das Erfordernis einer zeitnahen Antragstellung in der vorliegenden Fallgestaltung des Kindernachzuges erst nach dem Ablauf der im Falle der Klägerinnen einzuhaltenden Fristen hinreichend klar zu entnehmen. Soweit die Beklagte auf die Möglichkeit verweist, einen Visumantrag während des Laufs der Frist auch anders als im Rahmen einer persönlichen Vorsprache bei einer Auslandsvertretung - etwa per E-Mail oder Telefax - zu stellen, sind die Klägerinnen hierüber nicht hinreichend deutlich und unmissverständlich informiert worden, wie sich aus den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts und dem Vorbringen der Beteiligten im Revisionsverfahren ergibt. Vielmehr lag für die Klägerinnen mangels verlässlicher anderweitiger Informationen der Eindruck nahe, mit dem Schreiben ihres Vaters vom 2. Februar 2016 sei alles zur Fristwahrung Erforderliche getan.

24 bb) Die Klägerinnen waren nach den gemäß § 137 Abs. 2 und § 134 Abs. 4 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts unverschuldet und damit objektiv entschuldbar an der rechtzeitigen persönlichen Antragstellung bei der Auslandsvertretung gehindert. Im Klageverfahren haben sie geltend gemacht, sie hätten zu einem früheren Zeitpunkt erfolglos versucht, Termine für die Beantragung der Visa zu bekommen. Am 27. Oktober 2015 sei für sie ein Termin am 17. Mai 2016 bei der deutschen Botschaft in Istanbul vereinbart worden, den sie aber hätten absagen müssen, weil die Grenze zwischen Syrien und der Türkei geschlossen und ein Übergang nicht möglich gewesen sei. Daraufhin hätten sie Referenznummern für Termine zur Beantragung von Visa bei der deutschen Botschaft in Beirut gebucht. Ein erster Termin dort am 9. Mai 2018 habe von ihnen nicht wahrgenommen werden können, weil ihnen ein Grenzübertritt von Syrien aus in den Libanon nicht möglich gewesen sei. Die Familie habe sieben bis acht Monate für den Weg nach Aleppo benötigt, da der Weg über Afrin nicht passierbar gewesen sei. Zudem sei die Reise aufgrund der Erkrankung der Klägerin zu 1 schwierig gewesen. Ende 2018 beziehungsweise Anfang 2019 habe die Familie zuerst neue Referenznummern und schließlich den Termin am 11. Februar 2020 bei der Botschaft in Beirut erhalten, der bereits aufgrund des Terminstandes zehn bis zwölf Monate zuvor gebucht worden sei (UA S. 4). Das Verwaltungsgericht hat die Mutter der Klägerinnen als Zeugin dazu vernommen, welche Umstände dazu geführt haben, dass ein Vorsprachetermin bei der deutschen Auslandsvertretung erst am 11. Februar 2020 realisiert worden ist. Daraufhin ist es zu der Überzeugung gelangt, dass die wesentliche Ursache für die erhebliche Dauer des Visumverfahrens nicht auf ein Nichtbetreiben durch die Klägerinnen, sondern auf die von ihnen vorgefundenen äußeren Umstände zurückgehe, die durch den Bürgerkrieg in Syrien sowie den Grenzkonflikt der Türkei mit Syrien ("Operation Olivenzweig") geprägt seien (UA S. 13). Insbesondere haben sich die Klägerinnen hiernach fortwährend um die rechtzeitige Antragstellung bei diversen deutschen Auslandsvertretungen bemüht. Der daraus gezogene Schluss, das Unterbleiben einer fristgemäßen Antragstellung sei unverschuldet, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

25 d) Die übrigen, bei einem unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG begründeten Anspruch entsprechend geltenden nationalrechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzuges liegen nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor. Auf dieser Grundlage ist gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und vom Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass den Klägerinnen und ihrer Familie die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Staat möglich wäre, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist und zu dem sie eine besondere Bindung hätten (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die sonstigen allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen liegen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor.

26 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht mit einem Antrag am Kostenrisiko beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.